Blog
Warum der Austausch historischer Kastendoppelfenster ein Fehler ist – Stories

Wir schreiben das Jahr 2010. Als Student mit Wohnberechtigungsschein hatte ich das große Los gezogen: 57 Quadratmeter im ersten Stock eines Altbaus, ein riesiges Zimmer zur Straße, geräumige Wohnküche zum Hof – und das Ganze für 350 Euro warm, mitten im Berliner Kollwitzkiez. Was die Wohnung für mich aber zu einem wahren Schatz machte, waren nicht nur die Lage oder der Preis. Es waren ihre Details: breite Holzdielen, eine große Flügeltür – und Kastendoppelfenster (KDF).
Vermeintlicher Fortschritt
Diese Fenster hatten schon Generationen gesehen. Ihre Flügel ließen sich weit öffnen, ihre Scheiben verzerrten den Blick auf das Nachbarhaus, sie knarrten beim Schließen. Ich liebte sie dafür. Und dann geschah es – während meines Auslandssemesters, als die Wohnung untervermietet war: Die Fenster wurden ausgetauscht gegen neue aus Kunststoff, angeblich aus energetischen Gründen.
Zu meiner Überraschung sahen die neuen Fenster erstaunlich gut aus. Die Proportionen stimmten, sogar das historische Profil der Rahmen war imitiert. Zumindest mit Abstand war der Unterschied kaum auszumachen. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass es vielleicht besser so sei. Moderne Fenster sind dichter, dachte ich, das spart Energie. Dass ich damit einem Irrtum aufgesessen war, wurde mir erst Jahre später klar. Denn was hier verloren gegangen war, war ein Stück Baukultur. Ein ausgereiftes System. Und ein Schatz in Sachen Nachhaltigkeit, den wir besser verstehen sollten.
Warum alte Fenster anders wirken
Fenster gelten als die Augen eines Hauses – und das zu Recht. Doch sie sind viel mehr: Sie regulieren das Raumklima, strukturieren Licht und Luft, schützen vor Kälte, Hitze, Lärm und Feuchtigkeit. Und sie prägen die Atmosphäre im Innenraum. Denn wie ein Fenster aussieht, funktioniert und sich anfühlt, hat enormen Einfluss auf das Wohnerlebnis. Das Zusammenspiel aus tiefer Laibung, schmalen Profilen, altem Glas und dem satten Geräusch beim Öffnen – all das ergibt eine Qualität, die zum Altbau gehört – und die sich kaum reproduzieren lässt. KDF machen Räume weich, menschlich, tief.
Ein unterschätztes Hightech-Bauteil
Auch bauphysikalisch ist das KDF ein Meisterwerk. Zwei separate Flügel bilden eine doppelte Hülle mit einem Luftpolster dazwischen – eine natürliche Dämmung. Der Außenflügel hält Wind und Regen ab, der Innenflügel schließt die Wärme ein. Zugleich bleibt das System durchlüftet – ideal für das feuchteadaptive Verhalten der Gebäudehülle im Altbau. KDF sind keine Zufallsprodukte, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger, empirischer Forschung in Holz. Profile mit Schlagleisten, Wetterschenkeln, mehrfachen Windfängen – all das wurde über Generationen optimiert. Und es funktioniert bis heute. Bei richtiger Pflege überdauern KDF mühelos ein Jahrhundert – und mehr. Gerade Berlin sitzt auf einem wahren Schatz, denn hier haben deutlich mehr KDF überlebt als in anderen Großstädten.
Dank moderner Sanierungstechniken lassen sich Kastenfenster heute auf sehr gute energetische Werte bringen. Voraussetzung ist eine gewissenhafte Aufarbeitung: Die seit den Sechzigerjahren verwendeten Acryllacke müssen entfernt, beschädigtes Holz ausgebessert und Beschläge instand gesetzt werden. Für den Neuanstrich kommt ausschließlich Leinölfarbe in Frage – diffusionsoffen und holzverträglich. Schon in diesem Zustand ist das Fenster ausreichend dicht für ein behagliches Raumklima. Weitere energetische Verbesserungen sind möglich: etwa eingefräste Dichtungen oder spezielle Mehrfach-Isolierglasscheiben im Innenflügel. So ertüchtigt erreichen KDF U-Werte von 1,1 bis 1,3 W/m²K – vergleichbar mit modernen Holz- oder Aluminiumfenstern. Nur High-End-Passivhausmodelle schneiden besser ab, allerdings mit deutlich höherem Ressourceneinsatz. Wer mehr über die Kunst der Fensterrestaurierung erfahren möchte, dem sei die SWR-Doku aus der Reihe „Handwerkskunst!“ empfohlen – abrufbar in der ARD-Mediathek.
Systemfehler: Austausch statt Aufwertung
Warum also werden KDF noch immer massenhaft ausgebaut? Die Antwort ist einfach und beunruhigend: Der Austausch ist systemisch gewollt. Förderpolitik, Sanierungsberatung und selbst Architekturbüros propagieren ihn als vermeintlich alternativlos. Die Industrie freut es: Neue Fenster verkaufen sich besser als alte reparierte. Restaurierung bringt keine Umsätze – nur Substanzerhalt. Und der zählt am Markt wenig.
Die Argumentation wirkt schlüssig: Moderne Fenster haben bessere U-Werte. Doch das ist eine Momentaufnahme. Bereits nach zehn Jahren sinkt die Leistung. Dichtungen verschleißen, Profile verziehen sich. Reparatur ist selten vorgesehen. PVC-Fenster etwa halten laut Herstellern vierzig bis fünfzig Jahre – in der Praxis oft weniger. Jeder Austausch erzeugt Emissionen, Abfall und Ressourcenverbrauch. KDF sind dagegen modular, reparierbar und langlebig. Was heute als neue „kreislauffähige“ Innovation beworben wird, ist dort längst Realität. Nur ohne Logo, Zertifikat und Vertriebsstrategie.
An Beweisen mangelt es nicht
Dass Kastendoppelfenster technisch wie ökologisch mithalten können, ist kein Bauchgefühl, sondern in zahlreichen Studien belegt. Besonders anschaulich wird das im Podcast Simple Smart Buildings von Friedrich Idam. Im Gespräch mit seinem Bauforscher-Kollegen Günther Kain erklärt er, dass KDF meist aufgrund normativer Standardwerte ersetzt werden, nicht wegen realer bauphysikalischer Defizite.
Die angegebenen U-Werte sind häufig drei- bis viermal höher als reale Messungen. Nachhaltigkeit, Reparierbarkeit und graue Energie bleiben fast immer unberücksichtigt, obwohl gerade sie die entscheidenden Faktoren wären. Um das zu ändern, haben Idam und Kain ein Verfahren entwickelt, mit dem sich die Dichtheit von Fenstern schnell messen lässt. Wer tiefer einsteigen will: Studien, Aufsätze und Podcastfolgen zum Thema sind auf Idams Website frei zugänglich.
In der Praxis: Die Freude am Erhalten
Beispiele für gelungenen Erhalt gibt es, denn für viele ist das KDF als innerstädtischer Fenstertyp alternativlos. Einer, der so denkt, ist Niklas Irmen, Denkmalpfleger in Berlin. Er zog kürzlich in eine Altbauwohnung in der Wiener Straße in Kreuzberg. Für ihn stand fest: „Eine Wohnung ohne originale Kastendoppelfenster kam für mich nicht infrage.“
Zur Not, sagt Irmen, hätte er die Fenster auch selbst aufgearbeitet. Doch dazu kam es nicht, denn er hatte Glück. Gemeinsam mit seinem Mitbewohner ist er Teil einer Hausgemeinschaft, die sich aktiv für den Erhalt der historischen Fenster einsetzt. Die Gruppe hat nicht nur ein Bewusstsein für den baukulturellen Wert der Fenster entwickelt, sondern setzt ihre Haltung auch konsequent um: Gemeinsam mit dem Fensterrestaurator Volker Marten, Werkstättenleiter und engagierter Botschafter des traditionellen Fensterhandwerks, werden die Kastenfenster des Hauses sorgfältig aufgearbeitet.
Bei der Untersuchung der teilweise stark mitgenommenen Fenster entdeckte Irmen ein entscheidendes Detail: „Man sieht sehr deutlich, wie eng die Jahresringe im Holz gesetzt sind. Das zeigt, dass damals extrem hochwertiges, langsam gewachsenes Holz verwendet wurde. Diese Qualität findet man heute kaum noch.“ Und aus seinem Berufsalltag weiß er: „In den allermeisten Fällen findet sich ein Weg, Kastendoppelfenster zu erhalten. Es hängt entscheidend vom Architekturbüro und vom Willen der Bauherrschaft ab. Wer erhalten will, findet eine Lösung.“
Ehrlich bewerten, Wissen vermitteln, Abrissmoratorium umsetzen
Wir stehen vor einer Entscheidung. Wollen wir die Bauwende ernst nehmen, müssen wir beim Bestehenden ansetzen. KDF sind keine Altlast, sondern eine Ressource. Wer sie erhält, schützt Klima und Kultur zugleich.
Das muss jetzt passieren:
– staatliche Förderung für Reparatur statt Ersatz,
– Aufbau einer Reparaturwirtschaft für das Fensterhandwerk,
– ehrliche Produktbewertung nach Lebensdauer statt Neuwert.
Im September 2022 forderte ein breites Bündnis führender Architektur- und Umweltinstitutionen ein bundesweites Abrissmoratorium. Doch wer es mit dem Erhalt ernst meint, der muss diese Logik auch auf einzelne Bauteile ausweiten: Ein Fenster, das hundert Jahre halten kann, hat im Container nichts verloren. KDF sind kein nostalgisches Detail. Sie sind ein Prüfstein. Wenn wir nicht einmal ein intaktes Fenster erhalten können – wie wollen wir dann ganze Gebäude, Städte und die Umwelt retten?